Wie steht es um die Gleichstellung der jungen Generation von Frauen, 50 Jahre nach Einführung des nationalen Frauenstimmrechtes? Dieser Frage geht die Sozialwissenschaftlerin Christina Bornatici in ihrer Studie „La situation des jeunes femmes en Suisse: Revue de la littérature“ (2022) im Auftrag der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF nach. Die Resultate zeigen ein ernüchterndes Bild: In Puncto Berufswahl und Beschäftigungssituation hat sich in den letzten Jahren nicht allzu viel verändert.
Die Berufswünsche von Jugendlichen sind nach wie vor wenig diversifiziert und sehr geschlechtstypisch. Insbesondere die jungen Frauen beschränken sich auf eine bestimmte Anzahl Branchen und Berufe. Gleichzeitig sind die Berufswünsche der Mädchen insofern weniger geschlechtsspezifisch, als dass sie sich häufiger in gemischten (30 bis 70% Personen des gleichen Geschlechtes) oder atypischen Berufen (weniger als 30% Personen des gleichen Geschlechtes) sehen. Zudem wird es von ihrem Umfeld besser akzeptiert, wenn sie geschlechtsuntypische Berufe wählen als bei jungen Männern. Vom Wunsch bis zur Umsetzung ist es jedoch ein grosser Schritt und die analysierten Studien zeigen, dass junge Frauen mit atypischen Berufswünschen diese weniger häufig umsetzen als ihre Kolleginnen mit gemischten oder typischen Berufswünschen. Dies führt dazu, dass trotz der anfänglichen Offenheit gegenüber dem angestrebten Beruf junge Frauen in der Arbeitswelt weniger oft einen atypischen Beruf ausüben als junge Männer.
Auch die nachobligatorischen Ausbildungsgänge auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe sind aufgrund der geschlechtstypischen Berufswünsche horizontal segregiert, d.h. es besteht eine ungleiche Verteilung von Frauen und Männern in den verschiedenen Ausbildungsgängen. Daran hat sich kaum etwas verändert, obwohl sich junge Frauen seit rund zwanzig Jahren häufiger für männertypische Sektoren wie das Ingenieurwesen entscheiden und junge Männer öfter frauentypische Berufe im Gesundheits- und Bildungsbericht wählen. Zudem zeigt sich, dass die horizontale Segregation umso ausgeprägter ausfällt, je früher die Berufswahl erfolgt.
Junge Frauen wählen tendenziell eher eine Allgemeinbildung und junge Männer eine Berufsbildung. Zudem sind Frauen in den kürzeren, akademisch weniger anspruchsvollen und renommierten Ausbildungsgängen in der beruflichen Grundbildung stärker vertreten. Entsprechen machen auch weniger junge Frauen eine Berufsmaturität und beginnen eine Tertiärausbildung als ihre männlichen Altersgenossen.
Kaum Geschlechterdifferenzen bei Hochschulabschlüssen
Im Unterschied zur höheren Berufsbildung bestehen bei den Hochschulabschlüssen kaum noch Geschlechterdifferenzen: 2020 verfügten 55% der 25- bis 34-jährigen Frauen und 51% der gleichaltrigen Männer über einen Tertiärabschluss. Die Absolventinnen geben jedoch an, dass sie mehr Schwierigkeiten gehabt hätten, eine Stelle und insbesondere eine Vollzeitstelle zu erhalten als ihre männlichen Kollegen.
Auf der Doktoratsstufe hat sich der Frauenanteil seit 1996 mehr als verdoppelt. Dennoch absolvieren immer noch in fast allen Bereichen verhältnismässig mehr Männer als Frauen ein Doktoratsstudium.
Mehr Teilzeitbeschäftigung, weniger Leitungsfunktionen
Bereits bei den 15- bis 24-Jährigen unterscheidet sich der Beschäftigungsgrad der Geschlechter: Junge Frauen arbeiten weniger oft Vollzeit, 66% im Vergleich zu 81% der gleichaltrigen Männer, obwohl die Mehrheit noch keine Kinder hat. Dies ist jedoch nicht immer gewollt: Junge Frauen geben häufiger an, unterbeschäftigt zu sein und ihren Anstellungsgrad erhöhen zu wollen. Auch von den Personen mit einem Tertiärabschluss arbeiten mehr Frauen als Männer Teilzeit. Als Gründe nennen sie häufiger die vorherrschenden Arbeitsbedingungen wie beispielsweise eine geringe Anzahl Vollzeitstellen in bestimmten Bereichen.
Insgesamt ist der Anteil junger Frauen in hochqualifizierten Stellen von 2010 bis 2019 zwar angestiegen, jedoch zeigen einige Studien, dass Tertiärabgängerinnen im Vergleich zu ihren Kollegen bereits in der ersten Anstellung nach Studium-Abschluss eine tiefere berufliche Stellung innehaben. Somit haben junge Frauen bereits zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn weniger häufig verantwortungsvolle Stellen und Leitungsfunktionen inne als ihre männlichen Kollegen. Zudem ist der Unterschied bei einem Tertiärabschluss am grössten und die vertikale Segregation entsprechend am stärksten ausgeprägt.
Entsprechend ist auch das Lohngefälle bei Personen mit Tertiärabschlüssen unter den Geschlechtern höher als bei einem Abschluss auf Sekundarstufe II. Die nicht erklärbaren Lohnunterschiede von jungen Frauen und Männern von rund 4 bis 7% vergrössern sich im Laufe der Zeit zunehmend, da die jungen Männer eine ähnliche, wenn nicht sogar bessere Lohnentwicklung haben.
Und wie schätzen die jungen Frauen selber ihre Situation und die Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung in der Schweiz ein?
Gemäss einer Studie von 2018 vertrat die Mehrheit der Schweizer Erwerbsbevölkerung die Ansicht, die Gleichstellung von Frau und Mann sei noch nicht oder nur teilweise erreicht. Die jungen Frauen erleben die Geschlechterungleichheiten stärker im Erwerbsleben als im Privaten oder in Bereichen des öffentlichen Lebens. Zudem weisen verschiedene Studien darauf hin, dass junge Frauen Geschlechterungleichheiten stärker wahrnehmen und anprangern als ihre männlichen Altersgenossen. So bezeichnen sich sechs von zehn jungen Frauen als Feministinnen und fordern gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Bekämpfung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz, die Erhöhung der Anzahl Frauen in Leitungsfunktionen sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben. Sie sprechen sich klar für die Ermöglichung von verantwortungsvollen Funktionen mit einem Teilzeitpensum, die Einführung von Geschlechterquoten in Leitungsfunktionen und nicht zuletzt für ein kostengünstigeres Angebot für die familienergänzende Kinderbetreuung aus.
Christina Bornatici, Forscherin und Spezialistin im Datenservice und Forschungsinformationsdienst von FORS (Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften) und Doktorandin am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Lausanne, hat mehr als 180 aktuelle Publikationen aus der Schweiz ausgewertet. Mit “jungen Frauen“ sind Frauen zwischen etwa 15 und 30 Jahren ohne Kinder gemeint. In der deutschen Kurzfassung, auf der dieser Blogbeitrag basiert, werden die folgenden Themenschwerpunkte beleuchtet: 1) Bildung und Beschäftigung, 2) Familien- und Privatleben und 3) Werte und Engagement. Der vorliegende Blog-Artikel konzentriert sich auf den Bereich Bildung und Beschäftigung.