Autorin: Stefanie Rübenacker
Mich überrascht immer wieder, wie das das Leben so spielt. Wie es uns IMMER WIEDER den Spiegel vorhält und nicht lockerlässt, bis wir die Lektion auch wirklich verstanden haben. Einfach Zeit verstreichen lassen, gilt nicht: The only way out is through. Genau so ging es mir mit dieser Kolumne zum Thema «Perfektionismus». In der Redaktionssitzung habe ich dem Team gross verkündet, einen Beitrag zu schreiben: «Wie wir ungesunden Perfektionismus überwinden». Ich war überzeugt, kürzlich grossartige Erkenntnisse dazu gehabt zu haben und verspürte das starke Bedürfnis, meine Weisheit mit allen zu teilen. In meiner Vorstellung war der Beitrag bereits geschrieben, meine Erlebnisse, Einsichten und Ratschläge schlüssig und spritzig zusammengefasst. Eine Portion Barbara Bleisch mit einer Prise Gülsha. Tiefgründig und doch mitten aus dem Leben. Entsprechend begeistert reagierte auch das Team auf meinen Vorschlag. Eine Kolumne zu Perfektionismus – grossartige Idee!
Ich öffnete noch am gleichen Tag euphorisch mein Word. Das digitale Blatt Papier weissstrahlend vor mir, der Curser erwartungsvoll blinkend. Durch meinen Kopf blitzten dutzende Ideen. Ich wollte alles unterbringen. Ich wollte den perfekten Beitrag schreiben. DEN PERFEKTEN BEITRAG ÜBER UNGESUNDEN PERFEKTIONISMUS. Touché. Es bedarf nicht viel Kombinationsgabe, um jetzt schon zu ahnen, dass es natürlich nicht dazu kam. Anstatt einfach loszulegen, drehte und wendete ich jedes Wort, weil mir einfach keines zusagte. Sobald ich ein bis zwei Sätze runtergetippt hatte, drückte ich die DELETE-Taste, als ging es um mein Leben. Bis ich irgendwann erschöpft und frustriert den zuklappte. Ein bisschen Zeit vergehen lassen, ist bestimmt eine gute Idee. Schreibblockaden kennen selbst die erfolgreichsten Autor*innen … Wie es so ist mit diesen Spiegeln des Lebens, erkennen wir sie selten dann, wenn wir geradeaus in sie hineinstarren.
Zwei Tage liess ich meine Schreibblockade ruhen, bis ich den nächsten Versuch wagte. Das digitale Blatt Papier immer noch strahlendweiss, der Cursor inzwischen fast vorwurfsvoll blinkend. Dieses Mal versuchte ich es mit einer anderen Herangehensweise. Bevor ich zu schreiben anfing, recherchierte ich. Darin war ich gut. Schliesslich habe ich ein ganzes Semester lang «wissenschaftliches Arbeiten» gelernt. Ich klickte mich also durch Psychologie-Blogs, Master- und Bachelorarbeiten und Studienpaper rund um Perfektionismus und mit jeder Lektüre verlor ich ein bisschen mehr Selbstvertrauen. Wusste ich überhaupt genug, um einen Beitrag über Perfektionismus zu schreiben? Wie wissenschaftlich muss eine Kolumne eigentlich sein? Gibt’s solche Beiträge nicht eh schon zur Genüge? Vielleicht muss ich mein ganzes Vorhaben über den Haufen schmeissen – das war der letzte Gedanke, bevor ich das Worddokument wieder schloss. Und dieses Mal blieb es ein paar Tage länger zu.
Während ich immer ernsthafter mit dem Gedanken spielte, das Vorhaben abzubrechen und möglichst alle anderen auch noch so nichtigen Aufgaben vorzog, trudelte eine Mail von meiner Teamkollegin rein: «Ich freu mich auf deinen Beitrag über Perfektionismus». Mist. Damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. Schlimmer noch als meinen Erwartungen nicht gerecht zu werden, ist nur, anderer Erwartungen nicht gerecht zu werden. Aha. Kam mir das nicht irgendwie bekannt vor? Ich schloss die Augen, atmete tief und lächelte liebevoll über so viel Metaebene, über so viel vorgehaltenen Spiegel. Während ich einen Beitrag über ungesunden Perfektionismus schreiben wollte, stand mir also nichts Geringeres im Weg als mein eigener ungesunder Perfektionismus.
Nun sitze ich also hier und öffne noch einmal das Word. Eine ganz neue Datei, ohne gemeinen Cursor. Und ich beginne zu schreiben. Einfach drauflos. Die perfekten Wörter fliegen mir immer noch nicht zu, auch die Sätze kommen ungeschliffen. Doch ich weiss, da muss ich durch. Und es fühlt sich ziemlich gut an. Denn das wollte ich eigentlich mit dieser Kolumne weitergeben. Aus Angst davor, Erwartungen nicht zu erfüllen, nicht gut genug zu sein, angreifbar zu werden, mache ich oft NICHTS. Dadurch stehe ich mir und vor allem meinen Wünschen und Zielen im Weg. Ich fürchte mich so sehr vor Urteilen anderer, dass ich schon Bewerbungen auf Traumstellen nicht abgeschickt, Arbeiten zu spät eingereicht oder Personen nicht angesprochen habe. Ich versuche, alle möglichen Kritikpunkte, Meinungen und Reaktionen vorherzusehen, bis ich fast durchdrehe. Ich stehe damit aber nicht nur mir und meinen Wünschen im Weg, sondern auch spannenden Diskussionen, befruchtendem Austausch und Innovation. Denn Perfektionismus hinter mir lassen, habe ich nicht zuletzt auch im Design Thinking gelernt: Ideen möglichst früh eine Form geben, so werden sie konkret und können diskutiert, widerlegt, weiterentwickelt oder umgesetzt werden. Das lässt sich auch auf persönliche Anliegen und Vorhaben übertragen. Prototyping als Therapieform quasi. Einfach mal loslegen, die Bewerbung schicken, die Arbeit abgeben, die Person ansprechen, oder den Beitrag schreiben. Vielleicht erhalten wir eine Absage, ernten ein Naserümpfen oder Kopfschütteln. Vielleicht aber auch nicht.